EU-Gipfel: Das Schreckgespenst der Wettbewerbsfähigkeit

19. Dezember 2013

Ein Schreckgespenst sucht Europa heim: das Schreckgespenst der Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Regierungen erzählen uns regelmäßig (und werden uns beim EU-Gipfel wieder drängen), dass wir härter, länger und für weniger Bezahlung arbeiten müssen, um „wettbewerbsfähiger“ zu sein. Wir müssen unsere hart erarbeiteten sozialen Schutzschilde – Renten, Arbeitslosengeld und andere Aspekte des „sozialen Europas“ reduzieren oder aufgeben – um „wettbewerbsfähiger“ zu sein. Wir müssen „flexibler“ sein, was bedeutet, dass wir die Sicherheit der Arbeitsplätze für immer heiklere und anstrengendere Arbeitspraktiken opfern müssen – um „wettbewerbsfähiger“ zu sein. Regierungen müssen „Finanzdisziplin“ wahren, anstatt die Volkswirtschaften aus der Rezession herauszustimulieren, denn solche Disziplin macht uns „wettbewerbsfähiger“. Europäische Peripherieländer müssen ihre Souveränität an die „Troika“ abgeben, um ihre „Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen“. Wir müssen Freihandelsabkommen unterzeichnen, wie etwa die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den USA, denn das macht uns „wettbewerbsfähiger“. Wir dürfen den Finanzsektor nicht „überregulieren“ oder den Unternehmen „unverhältnismäßige“ Umweltbeschränkungen auferlegen, denn das würde uns weniger „wettbewerbsfähig“ machen.

Wettbewerbsfähigkeit ist keine Lösung

Das Dogma der Wettbewerbsfähigkeit wird die aktuelle Krise der Eurozone nicht lösen, da es einen Abwärtsdruck auf die Löhne (und damit auf die Käufernachfrage) und auf die öffentlichen Ausgaben darstellt, der die europäischen Volkswirtschaften in einer Abwärtsspirale festhält. Noch grundsätzlicher geht es bei dieser Diskussion in Wirklichkeit darum, Firmengewinne auf Kosten der Wohlfahrt der Masse der europäischen Bevölkerung und der Umwelt in die Höhe zu treiben. Wir haben die Wahl, Arbeit und Einkommen fairer zu verteilen, sodass jeder Zugang zu einem anständigen Lohn und erfüllender Arbeit hat, sowie auch zu öffentlichen Dienstleistungen hoher Qualität, aber um das zu tun, müssen wir Einkommen von Finanzkapital und Firmenprofiten mehr als üblich wegverteilen – zur Masse der Bevölkerung, öffentlichen Diensten und Umweltschutz hin.

Wenn Industrielle Politik machen

Die wahre Absicht hinter dieser Erzählung von „Wettbewerbsfähigkeit“ wird sich auf dem Treffen des Europäischen Rats am 19. Dezember zeigen, wo der Vorschlag eines neuen Wettbewerbsfähigkeitspakts debattiert werden soll. Um beim Entwurf dieses Pakts zu helfen, hatte die deutsche Kanzlerin Merkel den französischen Präsidenten Hollande und Kommissionschef Barroso zu einem Treffen in Berlin im März 2013 mit fünfzehn Mitgliedern des Europäischen Runden Tisches Industrieller (ERT), allesamt Geschäftsführer großer Unternehmen, eingeladen – zwei von ihnen wurden beauftragt, den Vorsitz einer „Arbeitsgruppe zu Wettbewerbsfähigkeit“ zu führen. Der Bericht dieser Gruppe forderte unter anderem Steuererleichterungen, eine Aufhebung der (begrenzten) Bankenregulierung, einen weiteren Abbau von Arbeitsschutzmaßnahmen, die rationelle Begünstigung von Firmenzusammenschlüssen und -käufen sowie Privatisierungen. Nach Angaben des Corporate Europe Observatory „bedeuten die Forderungen des ERT nichts weniger, als dass die Europäische Union gänzlich zum Diener der Unternehmen gemacht werden soll“.

„Troika für alle“

Der Wettbewerbsfähigkeitspakt würde, sofern angenommen, eine weitere vertragliche Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission darstellen – eine Art „Troika für alle“ – die zu einer weiteren Aufweichung nationalen Arbeitsrechts, Abwärtsdruck auf die Löhne und weiterer im ERT-Stil gehaltener „geschäftsfreundlicher“ Regulierung (oder dem Fehlen derselben) führen wird. Dieses letzte Element wird die Wahrscheinlichkeit, dass in der Zukunft eine weitere Wirtschaftskrise ausbricht, erhöhen – um eine solche Krise abzuwenden, brauchen wir mehr, nicht weniger Regulierung, insbesondere des Finanzsektors. Der Pakt wird, aufbauend auf dem Fiskalpakt und verwandten Maßnahmen, auch weitere Zwangsmaßnahmen bezüglich der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten enthalten, die dazu dienen, die demokratische Kontrolle über lebenswichtige Teile der Wirtschaftsverwaltung zu reduzieren. (Obwohl der Themenkatalog zur Wettbewerbsfähigkeit durch EU-Gipfel, Verträge und Pakte vorangetrieben wird, geschieht dies im Einvernehmen mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, die bequem die Schuld auf Brüssel schieben und behaupten können, dass von den europäischen Institutionen keine Alternative zu diesem Themenkatalog angeboten wird).

Der Wettbewerbsfähigkeitspakt muss aus drei Hauptgründen zurückgewiesen werden.

  • Erstens wird er die europäische Wirtschaftskrise vertiefen, indem er Binnennachfrage und öffentliche Ausgaben zu einer Zeit nach unten drückt, in der konjunkturfördernde Maßnahmen zur Erholung der Wirtschaft dringendst erforderlich sind.
  • Zweitens wird er einen weiteren Nagel in den Sarg der europäischen Demokratie treiben, indem er noch mehr wirtschaftspolitische Werkzeuge aus den Händen der nationalen Regierungen nimmt und diese an nicht gewählte Technokraten weitergibt.
  • Drittens wird er, in Übereinstimmung mit dem lange verfolgten Ziel der „Wettbewerbsfähigkeit“, die Bedingungen, unter denen wir Europäer leben und arbeiten, verschlechtern und uns damit zwingen, länger für weniger Geld in einem Zustand größerer Unsicherheit zu arbeiten, während gleichzeitig die öffentlichen Dienste, auf die wir angewiesen sind, beschnitten werden.

Dies wird im Namen der „Wettbewerbsfähigkeit“ getan, doch in Wahrheit geht es darum, Unternehmensgewinne auf Kosten des Rechts normaler Menschen auf ein anständiges Leben zu steigern.