Die Erfindung des Notstands

24. Mai 2016

Ab 1. Juni wird es möglich sein, unter Berufung auf einen Notstand das Recht auf Asyl weitgehend außer Kraft zu setzen. Im Hintergrund dieser umstrittenen gesetzlichen Konstruktion stand das Ziel, die Zahl der Asylanträge heuer mit 37.500 zu limitieren. Doch welche Auswirkungen hätte die Erklärung eines Notstands auf Gesellschaft und Rechtsstaat?

Mit Juni 2016 tritt eine Novelle zum Asylgesetz in Kraft, deren wichtigste Änderung darin liegt, dass die Bundesregierung künftig im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrats per Verordnung einen Notstand ausrufen und damit wesentliche Teile des Asylrechts außer Kraft setzen kann. Im Gesetz wurden keine faktisch-bindenden Kriterien festgelegt, anhand derer ein Notstand zu bestimmen ist. Es reicht bereits aus, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit als sehr wahrscheinlich erscheint. SPÖ und ÖVP hatten sich ursprünglich darauf geeinigt, dass dies bei einer jährlichen Obergrenze von 37.500 Asylanträgen anzunehmen ist.

Rechtlich beruft man sich auf Artikel 72 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Ob diese Bestimmung tatsächlich eine taugliche Rechtsgrundlage für die Notstandsregelung bietet, ist allerdings höchst strittig. Juristenorganisationen wie der Österreichische Rechtsanwaltskammertag, der Dachverband der Verwaltungsrichter oder die Richtervereinigung übten jedenfalls ungewöhnlich scharfe Kritik. Ihrer Rechtsansicht nach könne keineswegs mit Verweis auf die öffentliche Ordnung und der inneren Sicherheit das im Unionsrecht verankerte Asylrecht zurückgedrängt werden. Man zeigt sich gewiss, dass das neue Gesetz einer Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof nicht standhalten würde.

Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Werner Faymann war bemüht, den Notstand als harmloses, wenngleich notwendiges Instrument zur Regulierung der Asyl-Zuwanderung zu präsentieren. Beteuert wurde, dass er sich „nur“ auf den Bereich Asyl beziehen und es sich daher nicht um einen „eigentlichen“ Notstand handeln würde. Was ein „uneigentlicher“ Notstand wäre, fragte Journalistin Anneliese Rohrer entrüstet und warf der Regierung einen „situationselastischen Umgang mit dem Recht“ vor. Wiens Bürgermeister Michael Häupl sprach von einer „Konstruktion des Notstands“.

Was aber ist ein Notstand?

Der Notstand ist die schärfste Waffe, die dem Rechtsstaat zur Verfügung steht, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und den weiteren Bestand des Staates zu sichern. Es handelt sich um ein rechtspolitisches Instrument, das ein Staat einsetzt, um sich gegen massive Angriffe auf seine Sicherheit zu wehren. In einer liberalen Demokratie sollte dieses Instrument die ultima ratio des staatlichen Handelns bilden und erst dann zum Einsatz gelangen, wenn die in der Rechtsordnung vorgesehenen Mittel nicht mehr ausreichen, um einen existentiellen Schaden abzuwenden.

Als faktischer und in der Regel unvorhersehbarer Zustand liegt die Pointe des Notstandes gerade darin, dass sich sein Eintritt aufgrund seiner Vielgestaltigkeit gesetzlich schwerlich festlegen lässt. Den politisch Verantwortlichen bleibt also ein relativ großer Interpretationsspielraum, um zu beurteilen, wann er eintritt und endet. Der Notstand gilt daher als besonders missbrauchsanfällig, weshalb er in vielen Rechtsordnungen aus demokratiepolitischen Überlegungen nicht verankert ist, um eine illegitime Verwendung erst gar nicht heraufzubeschwören.

Besonders zurückhaltend war auch der österreichische Verfassungsgeber. Die Bundesverfassung kennt nur das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten bei außergewöhnlichen Verhältnissen. Mittels Notverordnungen dürfte der Bundespräsident aber ausdrücklich nicht verfassungsrechtliche Bestimmungen abändern. Er könnte daher nicht zentrale Bereiche des Asylrechts außer Kraft setzen.

„Not kennt kein Gebot“

Die Missbrauchsanfälligkeit des Notstandes ergibt sich am deutlichsten aus dem juristischen Sprichwort „Necessitas legem non habet“ – „Not kennt kein Gebot“. Ganz nach diesem Grundsatz legitimiert der Notstand das Illegitime. Hieraus erklärt sich das Spannungsverhältnis zwischen Notstand und Rechtsstaat. Im Notstand wird der Rechtsstaat zugunsten des Sicherheitsstaates zurückgedrängt. Die Befugnisse der Exekutive werden auf Kosten der Judikative ausgedehnt, damit unverzüglich Schritte gegen die Bedrohung gesetzt werden können. Die außergewöhnliche Gefahrenlage legitimiert, dass die Maßnahmen auch rechtsstaatlichen Garantien widersprechen.

Selten lassen sich sohin die Grundrechte der eigenen Bevölkerung so effektiv und mühelos aushebeln wie unter Berufung auf einen Notstand. In Frankreich z.B. wurde der nach den Terroranschlägen von Paris ausgerufene Notstand auch dazu missbraucht, um Proteste von Umweltschützer_innen während des Klimagipfels von November 2015 aufzulösen.

In den USA wurde im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 der Notstand erklärt und infolgedessen zentrale Werte der Demokratie, vor allem durch eine Ausweitung geheimpolizeilicher Befugnisse, ausgehöhlt. Das US-Gefangenenlager Guantanamo bietet das mit Abstand extremste und daher wohl wirkmächtigste Bild für einen Staat im Notstand. Die Aufblähung des Sicherheitsstaates auf Kosten des Rechtsstaates führt nicht selten zur Schaffung von rechtsfreien Räumen, in dem Menschenrechte verletzt werden.

Eine wesentliche Erweiterung der Kompetenzen der öffentlichen Sicherheitsorgane sieht auch das neue Asylgesetz für die Dauer des Notstandes vor.

Häufiges Instrument von Diktaturen

Bis in die jüngste Geschichte missbrauchten immer wieder Regime den Notstand als gewöhnliche Regierungstechnik. So kannte die Weimarer Reichsverfassung (1919-1933) ein Notverordnungsrecht, von welchem in der Weimarer Republik auch regelmäßig Gebrauch gemacht wurde. In 14 Jahren wurden über 250 Notverordnungen erlassen, die unter anderem die Verhaftung und Exekution tausender Mitglieder der Kommunistischen Partei rechtfertigten. Auch das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 kannte ein Notverordnungsrecht des Monarchen. 1914 wurde zudem – in durchaus guter Absicht – ein weiteres Notverordnungsrecht geschaffen. Die Verordnung sollte die Regierung ermächtigen, während des Krieges „die notwendigen Verfügungen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens zu treffen“. Aufgrund seiner missbräuchlichen Verwendung durch den Kaiser wurde die Bestimmung allerdings bald „Diktatur-Paragraph“ genannt.

In Deutschland bedienten sich in weiterer Folge die Nationalsozialisten des Notstands in massiv missbräuchlicher Manier. Infolge des Reichstagsbrandes von Februar 1933, den sie als „kommunistischen Aufstandsversuch“ deuteten, ließen sie die „Verordnung zum Schutz von Staat und Volk“ ausarbeiten, mit der sie wesentliche Grundrechte der Bevölkerung aussetzten. Die Verordnung war ein wichtiges Instrument der NS-Herrschaft, mit der die GESTAPO bis 1945 ihre repressiven Maßnahmen legitimierte.

Kein Notstand ohne Feinde

Da der Notstand der Gefahrenabwehr dient, kommt er schwerlich ohne eine Freund/Feind –Rhetorik aus. Sah man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert im Sozialismus eine Gefahr der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft und waren daher oftmals Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen Opfer von Notverordnungen, gelten heute Asylwerber_innen als Bedrohung.

Diese werden in den Erläuterungen zum Asylgesetz als Gefahr für die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung und somit als potentielle Feinde des Staates dargestellt. Ohne entsprechende Belege vorzulegen, wird unter anderem behauptet, dass bei annähernd gleicher Asyl-Zuwanderung wie 2015 die Kriminalität mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ansteigen würde.

Indem schutzsuchende Menschen solcherart als existentielle Bedrohung präsentiert werden, soll die Verletzung ihrer Rechte nicht als „Menschenrechtsverletzung“ sondern als „Notwehrhandlung“ erscheinen. Der Abgeordnete Werner Amon (ÖVP) sprach in Bezug auf das neue Asylgesetz auch tatsächlich von einer „Notwehrmaßnahme“, da Österreich gewisse Kapazitätsobergrenzen habe.

Wem der Notstand nützen könnte

In den letzten Monaten hat sich das Thema Asyl im politischen Diskurs zur Projektionsfläche für allerlei Missstände entwickelt. Drängende Sorgen in der Bevölkerung, wie jene vor einem sozialen Abstieg durch Arbeitsplatzverlust oder einem weiteren Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, werden im Zusammenhang mit Asyl diskutiert, oft sogar in einen Kausalzusammenhang gestellt.

Diese Situation könnte eine Bundesregierung, die um ihren Rückhalt in der Bevölkerung bangt, für sich nützen. In Bezug auf Asyl könnte sie sich vorgeblich als verantwortungsvoller Ordnungsstifter profilieren, der das Bedrohliche fernhält und bannt. Hier wäre es ein Leichtes, sich den Anschein zu geben, dass man „die Ängste der Menschen ernst nimmt“. Es gäbe wohl keinen Akt, mit dem die Bundesregierung so viel Entschiedenheit suggerieren könnte wie mit der Erklärung eines Notstands. Und es gäbe wohl keinen Akt, mit dem sie effektiver von anderen, entscheidenderen Missständen ablenken könnte.

Gefahr der Desensibilisierung

Die Gefahr ist allerdings, dass es zu einer Desensibilisierung und damit Verstetigung des Notstandsbegriffes kommt. Der Notstand könnte seinen dramatischen Beiklang verlieren und zu einer alltäglichen Situation werden. Es bedarf wenig Phantasie, sich vorzustellen, welche politische Partei bei einer nächsten Regierungsbeteiligung diesen Gewöhnungseffekt für sich zu nützen wüsste. Ohne viel Gegenwind könnte ein Notstand auch aufgrund anderer Umstände behauptet werden. Unter der Fahne des Notstands könnten schließlich ungestört Grund- und Menschenrechte der eigenen Bevölkerung eingeschränkt werden.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist eine restriktive Handhabung des Notstandsbegriffes von so immenser Wichtigkeit. Selbst wenn in Österreich die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit tatsächlich gefährdet wären, läge es an der Bundesregierung, die Rechtsstaatlichkeit als oberstes Gebot hochzuhalten.