Deutschland: Motor eines europäischen Konjunkturaufschwungs?

04. November 2013

In Deutschland sinkt die Arbeitslosenquote. Das ist vor allem die Folge des Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Im Anstieg von Reallöhnen und Konsumnachfrage zeigen sich die positiven Wirkungen einer Verknappung von Arbeitskräften: Sie ermöglicht benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Zugang zum Arbeitsmarkt, belebt Inlandsnachfrage und Import und sorgt so nicht nur für wachsenden Wohlstand in Deutschland, sondern in der gesamten Eurozone. Alle Länder mit einem Überschuss in der Außenwirtschaft, darunter Österreich, sollten eine ähnliche Strategie einschlagen: Verkürzung der Arbeitszeit zur Verknappung des Angebots an Arbeitskräften, Ausweitung von Löhnen und Inlandsnachfrage, Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse. Das wäre ihr wichtigster Beitrag für den Zusammenhalt der Währungsunion.

In der Eurozone ist die Wirtschaftsleistung im II. Quartal 2013 zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder gestiegen. Die Frühindikatoren lassen auch für das zweite Halbjahr 2013 eine leichte Zunahme des Bruttoinlandsproduktes erwarten. Die vorsichtige Erholung wird – besonders in Deutschland – von steigender Industrieproduktion getragen. Das hat Hoffnungen auf einen Aufschwung aus dem tiefen Konjunkturtal genährt. Doch leider besteht wenig Anlass, die Finanzkrise als überwunden zu betrachten. So lange das Banken- und Finanzsystem so labil bleibt, ist eine Rückkehr zu wirtschaftlicher Stabilität unwahrscheinlich.

Massenarbeitslosigkeit in der Eurozone

Noch immer liegt das reale Bruttoinlandsprodukt der Eurozone um etwa 2% unter dem Wert von 2007, den es eigentlich bei einem „normalen“ Konjunkturverlauf um mehr als 10% übersteigen hätte sollen. Wir befinden uns weiterhin in der Krise, wie nicht zuletzt die besorgniserregenden Arbeitsmarktdaten zeigen: Die Arbeitslosenquote hat sich in der Eurozone von 7% der Erwerbspersonen Anfang 2008 auf 12% nahezu verdoppelt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt heute in der Währungsunion um acht Millionen und in der EU um 10,5 Millionen über dem Niveau vor der Krise. Vor allem die südeuropäischen Länder befinden sich in einer Depression, deren Ende nicht absehbar ist. Selbst wenn sich die Wirtschaft in absehbarer Zeit erholen sollte, kann es ein Jahrzehnt und mehr dauern, bis die von der Finanzkrise verursachte Massenarbeitslosigkeit bewältigt ist.

Deutschland: Arbeitslosigkeit sinkt durch Bevölkerungsrückgang

Doch es gibt auch Lichtblicke: In Deutschland liegt die Wirtschaftsleistung (so wie in Österreich) bescheiden aber doch über dem Niveau von 2007 und die Arbeitslosenquote ist sogar um zwei Prozentpunkte auf 5,5% der Erwerbspersonen gesunken. Wie kommt es, dass der bis zur Finanzkrise „kranke Mann Europas“ plötzlich zumindest im Vergleich mit den anderen EU-Ländern halbwegs gesund wirkt?

Dahinter steht viel Glück, aber auch die eine oder andere richtige Entscheidung der Politik: Während des dramatischen Produktionseinbruchs im Herbst 2008 hat die rasche Verkürzung der durchschnittlich geleisteten Arbeitszeit entscheidend zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes beigetragen: Staatlich subventionierte Kurzarbeit, der Abbau von Plusstunden und Urlaubspölstern hat die Kündigung von hunderttausenden Industriebeschäftigten verhindert und eines neuerlich unter Beweis gestellt: Innovative Formen der Arbeitszeitverkürzung können Beschäftigung erhalten. Der deutschen Industrie hilft zudem ihre Spezialisierung: Sie produziert primär Investitionsgüter und konnte deshalb von der raschen Überwindung der Wirtschaftskrise in Asien und anderen Schwellenregionen profitieren.

Ein wesentlicher Teil des Erfolges auf dem Arbeitsmarkt ist aber auch reines Glück: In Deutschland schrumpft die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Seit dem Jahr 2000 ist sie um etwa zwei Millionen zurückgegangen. Die Bevölkerungsprognosen lassen für die nächsten zehn Jahre einen weiteren Rückgang in ähnlicher Größenordnung erwarten. Ein Rückgang des Arbeitskräfteangebots entlastet den Arbeitsmarkt, ermöglicht es Arbeitslosen frei werdende Jobs anzunehmen und hat positive gesamtwirtschaftliche Effekte. Arbeitskräftemangel wirkt v.a. positiv, weil er die Verhandlungsposition der ArbeitnehmerInnen verbessert: In Deutschland ist die Zahl der Erwerbstätigen von 2007 bis 2013 kumuliert um knapp 5% gestiegen (Österreich +4%, EU 27 -2%), die Reallöhne pro Kopf sind um 3,5% gewachsen (Österreich und EU 27 +1%), die Konsumnachfrage der privaten Haushalte ist real um etwa 5% gestiegen (Österreich +5%, EU 27 -1%).

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Arbeitskräftemangel: Motor des Fortschritts

Diesen Anstieg von Beschäftigung, Löhnen und Konsum hat Deutschland auch bitter nötig. Denn in den 10 Jahren vor der Krise waren die Erwerbsquoten niedrig, die Konsumnachfrage ist kaum gestiegen, die Reallöhne pro Kopf sind gesunken und Deutschland hat den zweitgrößten Niedriglohnsektor der gesamten EU aufgebaut. Viele ÖkonomInnen sehen die demografische Entwicklung als wichtigstes wirtschaftliches Problem unserer Tage an. In Wahrheit hilft Arbeitskräfteknappheit bei der Senkung der Arbeitslosigkeit, der Erhöhung der Erwerbsquoten benachteiligter sozialer Gruppen, der gerechteren Verteilung des Volkseinkommens und gibt der Gesamtwirtschaft die dringend benötigten Impulse. Eine der wichtigsten Aufgaben fortschrittlicher Politik ist es deshalb, zu überlegen, auf welche innovative Weise das Arbeitskräfteangebot verknappt werden kann.

Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen

Steigende Löhne in Deutschland, die eine Ausweitung der Inlandsnachfrage und der Importe nach sich ziehen, wären eines der wichtigsten Elemente der Überwindung der Eurokrise. 2013 dürfte der Saldo der Leistungsbilanz Deutschland den Rekordwert von +7% des BIP erreichen. Ein derartiges Ungleichgewicht hält die Eurozone nicht aus. Vor allem, weil es weniger die Folge raschen Exportwachstums als vor allem Ausdruck eines ausgeprägten Importdefizits ist. Höhere Importe Deutschlands würden den Krisenländer Chancen zum Export bieten und so zur wirtschaftlichen Erholung beitragen; damit würden sie helfen, die Eurozone zu stabilisieren; sie wären aber auch im unmittelbaren Interesse Deutschlands: Materieller Wohlstand entsteht nicht schon bei der Produktion von Exportgütern, sondern erst beim Verbrauch der damit erzielten Einkommen. Derart hohe Leistungsbilanzüberschüsse zeigen, in welch großem Ausmaß das Land unter seinen Verhältnissen lebt.

Welche wirtschaftspolitischen Möglichkeiten bestünden in Deutschland, den Import auszuweiten, den Überschuss in der Leistungsbilanz zu verringern? Einen vielversprechenden Ansatz bildet erstens die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften, die Löhne und Konsum nach oben drückt. Notwendig wäre zweitens eine rasche Ausweitung der Investitionen in die marode öffentliche Infrastruktur und den ökosozialen Umbau der Wirtschaft. Schließlich würde drittens eine Verstärkung der staatlichen Umverteilungsaktivitäten durch Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und den Finanzsektor und den Ausbau von sozialen Dienstleistungen und Transfers zugunsten der unteren und mittleren Einkommensgruppen die Konsumneigung erhöhen.

Diese und ähnliche Maßnahmen wären in allen Überschussländern angebracht. Zu ihnen zählen neben Deutschland auch Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Österreich. Zusammen erbringen sie etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Eurozone. Der von einer Ausweitung der Inlandsnachfrage ausgehende expansive Impuls würde den materiellen Wohlstand in diesen Ländern steigern. Er bildet aber auch die notwendige Voraussetzung für eine konjunkturelle Erholung und die wirtschaftliche Stabilisierung in der gesamten Eurozone.

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der im aktuellen infobrief EU & international, Ausgabe 4/2013 erschienen ist.