Der Sozialstaat nützt uns allen – Umbau statt Abbau!

20. Juni 2016

Die Erfahrungen im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass Länder mit einer starken sozialstaatlichen Absicherung deutlich besser durch die Krise gekommen sind als andere. Der Vorteil eines gut ausgebauten Sozialstaats liegt darin, dass er Menschen in schwierigen Lebenslagen unterstützt und gleichzeitig zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen zu Stabilität beiträgt.

Der Sozialstaat bringt allen etwas: JedeR profitiert in bestimmten Lebenslagen vom Sozialstaat

In Österreich profitieren alle  Menschen je nach Lebens- und Einkommenssituation in unterschiedlicher Intensität von sozialstaatlichen Leistungen – dies gilt insbesondere für jene Lebenslagen, in denen die Menschen besonders verwundbar sind: Während unserer Kindheit besuchen wir meist das staatliche Schulsystem. Im Falle einer Krankheit kontaktieren wir einen Arzt oder eine Ärztin, der oder die uns Dank Krankenversicherung weitgehend kostenfrei untersucht. Sollten wir den Job verlieren, bietet die Arbeitslosenversicherung einen Lohnersatz. Es ist schwer auszumalen, wie unser heutiges Leben ohne staatliche Infrastruktur und Sozialleistungen aussehen würde.

Staatliche Umverteilung wirkt der zunehmenden Ungleichheit der Markteinkommen entgegen

Die aktuelle WIFO-Verteilungsstudie zeigt, dass die Ungleichheit zwischen den Markteinkommen (den „am Markt“ erzielten Einkommen – also ohne staatliche Eingriffe) deutlich gestiegen ist.

Bei den ArbeitnehmerInnenhaushalten waren die Einkommen vor der positiven Verteilungswirkung durch den Sozialstaat der einkommensstärksten 10% der Haushalte im Jahr 2000 um 9,7 mal so hoch wie jene der einkommensschwächsten 10% der Haushalte. Im Jahr 2010 waren die Einkommen vor den staatlichen Eingriffen  der einkommensstärksten 10% hingegen bereits 13,6 mal so hoch wie die der einkommensschwächsten 10%.

Eine Erklärung liegt in der unterschiedlichen Entwicklung der Einkommen: während die 10% LohnbezieherInnen mit den höchsten Einkommen von 2005 bis 2010 Zuwächse um 18% verzeichnen konnten, mussten die 10% LohnbezieherInnen mit den niedrigsten Einkommen im selben Zeitraum Einkommensverluste hinnehmen.

Der Sozialstaat wirkt diesem Trend zur Ungleichheit entgegen und stärkt die Mittelschicht sowie Menschen mit geringen Einkommen: Dank positiver Verteilungswirkung kann das untere Einkommensdrittel seinen Anteil an den Gesamteinkommen von 12,5% auf 20% steigern. Auch der Anteil des mittleren Drittels steigt (wenn auch nur geringfügig) von 29% auf knapp 31%. Demnach sinkt der Anteil des oberen Einkommensdrittels von 58,5% auf 49,5%.

Gründe für den Anstieg der Ungleichheit in der Einkommensverteilung

In den Industriestaaten waren die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen in den letzten 30 Jahren nie höher als heute. Der freie Waren- und Kapitalverkehr erlaubt, dass Konzerne ihre Produktion dorthin auslagern, wo Löhne sowie Arbeits- und Sozialstandards niedriger sind. Damit einhergehend hat eine Machtverschiebung zulasten der ArbeitnehmerInnen stattgefunden: Abwanderungsdrohungen können zu Lohndruck und Verschlechterungen von Arbeitsrecht und Arbeitsbedingungen führen.

Dies führt dazu, dass sich schlechte Bezahlung und nicht existenzsichernde Einkommen stärker ausbreiten, als Beschäftigungsverhältnisse, die eine Basis für ein „gutes Leben“ bilden. Teilzeitarbeit und atypische Beschäftigungsformen haben stark zugenommen. Zudem dämpfen Arbeitslosigkeit, der technische Fortschritt und die Globalisierung die Einkommen der Menschen mit niedriger Qualifikation, während diese Entwicklung Hochqualifizierten eher zu Gute kommt. Liberalisierte Finanzmärkte und „Steueroasen“ haben das ihre dazu beigetragen, dass die Kapitaleinkommen weitaus stärker gestiegen sind als die Lohneinkommen.

Umverteilung vorrangig über die Ausgabenseite

Insgesamt ist das österreichische Abgabensystem nicht sehr progressiv ausgestaltet: Die Haushalte im unteren Drittel der Primäreinkommensverteilung erzielten 12% aller Primäreinkommen und zahlten 10% aller Steuern und Sozialabgaben, umgekehrt erzielten die Haushalte im oberen Einkommensdrittel 60% aller Primäreinkommen und zahlten 63% aller Steuern und Sozialabgaben. Der Anteil der Abgaben der jeweiligen Einkommensgruppen ist damit in Österreich weitgehend proportional zum Anteil ihrer Markteinkommen.

Während einnahmenseitig kaum umverteilt wird, erfolgt die Korrektur in der Einkommensverteilung im österreichischen Sozialstaat ausgabenseitig. Im Umkehrschluss ist damit va im Kontext von möglichen Reformen und Weiterentwicklungen des Sozialsystems in Österreich eines klar: Kürzungen der Sozialausgaben treffen in der Regel Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen unverhältnismäßig stark, sind sozialpolitisch problematisch und verzögern den Wirtschaftsaufschwung.

Sozialer Fortschritt ist möglich und finanzierbar

Der Sozialstaat –  kann die Erwartungen der Menschen nur dann erfüllen, wenn seine Finanzierung auf eine breite und gerechte Basis gestellt wird. Und: Der Sozialstaat muss laufend angepasst und progressiv weiterentwickelt werden, um den aktuellen Herausforderungen, wie etwa der Auseinanderentwicklung von arm und reich, dem demografischen Wandel bzw der Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise gerecht werden zu können.

Die Devise für die Weiterentwicklung des österreichischen Sozialstaats lautet deshalb: Umbau statt Abbau! Dies gilt natürlich besonders auf europäischer Ebene, wo sich gut ausgebaute, hochentwickelte Sozialsysteme gegenüber wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Veränderungen als besonders resilient erwiesen haben.

Treffender als Helmut Schmidt (dt. Bundeskanzler 1974-1982) kann man es wohl nicht formulieren: Der Sozialstaat ist „die größte kulturelle Leistung, welche die Europäer während des ansonsten schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben“.