Der soziale Dialog zwischen Sonntagsreden und Austeritätspolitik

02. Juli 2013

Politiker, sei es auf europäischer als auch auf nationaler Ebene, würdigen gerne die Bedeutung, ja die Unverzichtbarkeit des Dialoges – des sozialen  bzw. des zivilen Dialoges. Diese seien essenzielle Voraussetzungen für Akzeptanz und Erfolg wirtschaftlicher und sozialer Reformen. Wie allerdings die Berichte von nationalen InteressenvertreterInnen belegen, sieht die Praxis leider anders aus, vor allem in den von der Austeritätspolitik am schlimmsten betroffenen Ländern.

Studiert man EU-Dokumente zur ökonomischen Governance und zu angeblich notwendigen Reformen im Wirtschafts- und/oder Sozialsystem, so wird man dabei mit großer Sicherheit eine Passage finden, welche die Notwendigkeit der engen Einbindung der Sozialpartner betont. Insbesondere in den „Sonntagsreden“ der EU-Granden, von Kommissionspräsident Barroso abwärts, wird regelmäßig der Eindruck erweckt, ohne möglichst enge Einbeziehung der repräsentativen Interessenvertretungen von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen ginge praktisch gar nichts – es gelte doch, die Akzeptanz geplanter Maßnahmen zu sichern und zu vermeiden, dass „gegen das Volk“ regiert werde. Und überhaupt gehöre der soziale Dialog (also der Sozialpartner untereinander und mit der Regierung) bzw. der zivile Dialog (beratende Rolle der repräsentativen Vertretungen großer wirtschaftlicher und sozialer Gruppen) als elementarer Bestandteil des europäischen Sozialmodells gestärkt.

Wird der soziale Dialog der Krise geopfert?

Diese löblichen Grundgedanken verlieren sich bedauerlicherweise rasch in der praktischen Politik. Beim Frühjahrstreffen der RepräsentantInnen der Wirtschafts- und Sozialräte der EU, bei dem Österreich durch den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen vertreten war, berichteten die TeilnehmerInnen über die Entwicklung von Sozialpartnerschaft, sozialem und zivilem Dialog in ihren Ländern seit Ausbruch der Krise im Jahr 2008. Und die Berichte offenbarten die brutale Realität.

Am schlimmsten steht es um die Dialogkultur – nicht wirklich überraschend – in den mediterranen Krisenländern. Die griechischen VertreterInnen erklärten, durch das Tempo des aufoktroyierten Reformdruckes werde der institutionalisierte Dialog komplett vernachlässigt. Die spanische Delegation konstatierte, dass die Entscheidungsfindung immer intransparenter werde, sodass sie von den BürgerInnen nicht mehr nachvollzogen werden können. Auch in Portugal hat man den Eindruck, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung keine Rolle mehr spielen. Und Italien beklagte, dass in den zwei Jahren der Regierung Monti anstelle der traditionellen „Konzertierung“ nur noch sogenannte Experten über „Reformen“ (also Verschlechterungen) in Arbeitsrecht und Pensionssystem entscheiden – sozialer Dialog fände einfach nicht mehr statt.

Auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern, in welchen die Dialogstrukturen schon vor der Krise nur schwach ausgeprägt und auch nicht wirklich autonom waren, da oft von der Regierung gesteuert, ist erwartungsgemäß keine Verbesserung eingetreten, und die Lage bleibt weiterhin unübersichtlich. Es wird von Umstrukturierung und Aufbau neuer Strukturen berichtet, wobei der Eindruck erweckt wird, dass der ohnedies bescheidene Einfluss der beruflichen Interessenverbände, insbesondere der ArbeitnehmerInnen, weiter reduziert wird. Ungarn und die Slowakei erweiterten ihre einst tripartiten Wirtschafts- und Sozialräte (Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Regierung) um zusätzliche Interessengruppen, was die Chancen auf konsensuale Empfehlungen weiter vermindert. Der rumänische Rat beabsichtigt, nach einer Zeit des Stillstandes heuer wieder Normalbetrieb aufzunehmen.

Sozialer Dialog als Disziplinierungsinstrument gegen Gewerkschaften

Als symptomatisch für diese Ländergruppe kann der Bericht des polnischen Rates, der (ebenso symptomatisch) von einem Staatssekretär(!) repräsentiert wurde, gelten. Dieser berichtete stolz über das gute Funktionieren des sozialen Dialoges in seinem Lande. Die Sozialpartner hätten ein Anti-Krisen-Maßnahmenpaket erarbeitet, das von der Regierung übernommen wurde. Allerdings – so sein Nachsatz – hätten die Gewerkschaften keine rechte Freude damit, seien doch damit massive soziale Verschlechterungen, unter anderem eine Erhöhung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters, verbunden. Eine wahrlich beeindruckende Kultur eines autonomen und partnerschaftlichen sozialen Dialoges, der dann noch dazu von einem Regierungsmitglied vertreten wird!

Daneben gibt es Länder, die sich zwar in der Vergangenheit durch eine intensive Einbindung der Sozialpartner und durch erfolgreiche korporatistische Strukturen auszeichneten, wie die Niederlande, Luxemburg und Irland. In diesen Ländern wurde der soziale Dialog nach Ausbruch der Krise praktisch aufgekündigt. Nach einigen Jahren des Stillstandes scheint er – den Berichten der nationalen VertreterInnen zufolge – nun allerdings wieder voll angelaufen zu sein.

Ausnahme Österreich

Einzig Österreich und Belgien konnten berichten, dass die Sozialpartnerschaft, die Dialogkultur und die Einbindung in die Politikgestaltung – bei allen in der Natur der Sache liegenden Problemen und Kontroversen – durch die Krise (bisher) keine substanzielle oder nachhaltige Schädigung erlitten hätten.

Etwa vier Wochen nach diesem Treffen der Wirtschafts- und Sozialräte ergab sich eine eindrucksvolle Bestätigung dieses Befundes für Österreich, als die vier österreichischen Sozialpartnerpräsidenten (Foglar/ÖGB, Kaske/BAK, Leitl/WKÖ, Wlodkowski/LKÖ) geschlossen im Plenum des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) auftraten, um die österreichischen Erfahrungen im gemeinsamen Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zu präsentieren. Die meisten VertreterInnen der 27 Mitgliedstaaten im EWSA waren verblüfft – nicht nur durch die relativ erfolgreiche Bilanz Österreichs (mit 8 % die zweitniedrigste Jugendarbeitslosenrate in Europa nach Deutschland; im EU-Durchschnitt liegt die Jugendarbeitslosigkeit über 20 %, in Ländern wie Griechenland und Spanien deutlich über 50 %), sondern auch über die gemeinsamen Ziele und Bemühungen der österreichischen Sozialpartner sowie über deren Diskussions- und Konfliktaustragungskultur.

Es wäre also höchst an der Zeit, endlich die Lehren aus den Erfahrungen aus der Krise zu ziehen und die Bekenntnisse der Sonntagsreden in die Praxis umzusetzen. Die EU-Ebene sowie die europäischen Regierungen sind aufgerufen, die Rolle der Sozialpartner auf europäischer und auf nationaler Ebene zu stärken. In Ländern mit funktionierendem sozialen Dialog (wie etwa Österreich, Deutschland und Schweden) konnten die Sozialpartner wesentlich dazu beitragen, den drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge des Produktionsrückganges zu dämpfen. Denn neben Stützungen durch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen trugen auf Betriebs- und Branchenebene getroffene Vereinbarungen der Sozialpartner wesentlich dazu bei, bestehende Beschäftigungsverhältnisse beizubehalten (z.B. durch Kurzarbeit, Abbau von Überschüssen in Stundenkonten, Inanspruchnahme von Urlaubsansprüchen, Bildungskarenz etc.).

Sozialer Dialog als Chance für eine bessere Krisenpolitik

Was in längerer Perspektive vielleicht noch wichtiger ist: Notwendige Veränderungen und Reformen sind nur dann erfolgversprechend und werden nur dann von den BürgerInnen akzeptiert werden, wenn diese möglichst früh und intensiv in die Politikformulierung eingebunden werden. Wird dies vernachlässigt, dann sind der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt gefährdet. Es droht eine Radikalisierung, und Populismus und Anti-EU-Stimmung erfahren einen gefährlichen Aufschwung. Das dramatisch gestiegene Misstrauen der Bevölkerung in die europäische Politik lässt sich an den letzten Eurobarometer-Umfragen ablesen. Martin Westlake, der Generalsekretär des EWSA, brachte dies in seinem Schlusswort zur Tagung treffend zum Ausdruck: „Sozialer und ziviler Dialog sind nicht einfach eine Option, sondern der einzige Weg um die anstehenden Probleme zu bewältigen“.