Der Niedergang Europas, der als seine Rettung beschworen wird

16. Mai 2014

Die marktliberalen Eliten fahren die Eurozone wirtschaftlich und sozial gegen die Wand. Umso schlimmer die Auswirkungen ihrer Politik spürbar werden, umso aggressiver fordern sie Maßnahmen um den Niedergang des Kontinents zu verhindern. Doch ein Vergleich mit den USA zeigt: Nichts trägt mehr zum Niedergang der EU bei als genau diese Maßnahmen.

Vor 100 Jahren hatte Europa im globalen Vergleich den größten Entwicklungsvorsprung. Zwei Weltkriege schwächten seine politische, kulturelle und ökonomische Weltdominanz erheblich. Im Jahr 1945 lag Europa darnieder, die USA erzeugten nach Angaben des Historikers Eric Hobsbawm beinahe zwei Drittel der weltweiten Industrieproduktion. Bis in die frühen 1980er-Jahre legten besonders die kontinentaleuropäischen Staaten einen erstaunlichen Aufholprozess hin: 1982 erreichten die zwölf ursprünglichen Mitglieder der Eurozone eine Wirtschaftsleistung pro Kopf, die bei 76 Prozent des US-Wohlstandsniveaus lag. Die USA und Großbritannien entwickelten sich weniger dynamisch, und gerieten gegenüber Kontinentaleuropa und Japan ins Hintertreffen.

Ende der 1970er und Anfang der 1980er-Jahre begannen die Regierungen in den USA und Europa mit neuen Formen der ökonomischen Steuerung zu experimentieren. Die Wirtschaftspolitik war inspiriert vom Paradigma des Monetarismus Milton Friedmans. Dieser Kurswechselbedeutete laut dem Ökonomen Engelbert Stockhammer eine bewusste „Verschiebung der Prioritäten hin zu Preisstabilität auch auf Kosten von Massenarbeitslosigkeit.“ Jenseits des Atlantiks blieb der Monetarismus allerdings nur eine Episode. Mitte der 1980er-Jahre kam es in den USA zu einer moderaten Abkehr, kurz darauf zu einem deutlichen Bruch. Europa hat sich allerding mit dem Monetarismus – mit den Worten den Ökonomen Heiner Flassbeck – „auf eine langwierige und folgenreiche Partnerschaft eingelassen“.

Das ist genau der Punkt, ab dem der alte Kontinent den Anschluss an die US-Entwicklung verloren hat. Nach einem ersten Einbruch schien sich der Konvergenzprozess Ende der 1980er-Jahre wieder einzustellen. Nach 1991 ging es jedoch tendenziell bergab, sodass heute das BIP pro Kopf der Euro-12 sogar unter 70 Prozent des US-Werts liegt.

Anteil des BIP pro Kopf (in Kaukraftparitäten) der Euro-12 an jenem der USA 1960-2014
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Quelle: Ameco-Daten der EU-Kommission

Was machen die USA anders?

Werden die USA und Europa in Hinblick auf ihre sozioökonomische Struktur verglichen, sind die meistgenannten Unterscheidungsmerkmale der Entwicklungsgrad des Wohlfahrtsstaates oder die Regulierung des Arbeitsmarktes. Abseits dieser strukturellen Fragen gibt es aber noch eine andere entscheidende Dimension – die wirtschaftspolitische Steuerung.

Was ist nun eher US-spezifisch, und was eher typisch europäisch? Einerseits stehen die USA für geringe Staatseingriffe, andererseits sind sie aktuell bekannt dafür erhebliche Staatsschulden anzuhäufen und eine lockere Geldpolitik zu verfolgen. Europa wird wiederum mit einem Bekenntnis zu einem gut ausgebauten öffentlichen Sektor bzw. Wohlfahrtsstaat assoziiert, andererseits gelten hier die rigidesten Budgetregeln weltweit und die Zentralbank war über Jahre eine strenge Hüterin der Preisstabilität.

Das sind alles keine Widersprüche. Eine aktive Wirtschaftspolitik ist beispielsweise seit den 1990er-Jahren typisch für die als wirtschaftsliberal geltenden USA. Flassbeck: „In den USA ist es zum Beispiel fast allen Verantwortlichen klar, dass der Verzicht auf ein engmaschiges soziales Netz nur dann politisch tragbar ist, wenn Wirtschaftspolitik und Geldpolitik direkt für Vollbeschäftigung verantwortlich sind. Vollbeschäftigung ist sozusagen das soziale Netz in einer Gesellschaft, deren Individualismus direkte staatliche Interventionen in die Lebensverhältnisse des Einzelnen ablehnt.“

Seit Beginn der Krise haben die USA wirtschaftspolitisch vieles anders gemacht als die Eurozone. Im Jahr 2009 war das US-Konjunkturpaket mit 1,7 Prozent am BIP wesentlich größer (in den 13 größten EU-Staaten betrug es hingegen nur ein Prozent). Insgesamt war die Budgetpolitik in den USA offensiver, zwischen 2007 und 2010 erhöhten die Euro-12 ihre realen Staatsausgaben um zehn, die USA um 17 Prozent. Dementsprechend verzeichnete die US-Regierung in den Jahren 2009 und 2010 Budgetdefizite von 13 bzw. 12 Prozent, die Euro-12 hingegen jeweils die Hälfte. Das französische Finanzministerium hat das konjunkturbereinigte Primärdefizit (Defizit ohne Zinszahlungen) der Eurozone und der USA in den Jahren 2007 bis 2012 verglichen. Dabei zeigt sich nicht nur, dass die Ausweitung der Defizite in den Jahren 2008 und 2009 wesentlich kräftiger war, sondern auch, dass die Konsolidierung in den USA ab 2011 moderater ausfiel.

 Struktureller Primärsaldo & Veränderung des strukturellen Primärsaldos, 2008-2012

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Quelle: französisches Finanzministerium beruhend auf Daten des IMF Fiscal Monitor

Trotzdem ist die Verschuldung in den USA nicht so viel stärker gestiegen als die kräftigere Neuverschuldung vermuten lassen würde. Der Anteil der Staatsschuld am BIP ist in den USA um gut 40 Prozentpunkte angestiegen (auf 106 % des BIP), in den Euro-12 um knapp 30 Prozentpunkte (auf 97 % des BIP). Daran zeigt sich mustergültig, dass ein Staat trotz der viel höheren Schuldenaufnahme am Ende nur unwesentlich stärker verschuldet sein kann als ein Staat der sich viel weniger verschuldet. Dieses Sparparadoxon erklärt sich über das Wachstum, das durch die kreditfinanzierten Staatsausgaben angeschoben wurde. Die Entwicklung völlig unterschiedlicher Budgetpolitiken zeigt, dass der politische Wille zur wirtschaftspolitischen Steuerung jenseits des Atlantiks wesentlich ausgeprägter ist als in der Eurozone.

Auch im Bereich der Geldpolitik waren die USA offensiver. Die Federal Reserve Bank drückte den Leitzins nicht nur früher und tiefer als die EZB; Über die meiste Zeit blieb der Leitzins in den USA auch unterhalb des Niveaus der Eurozone. Die EZB hob den Leitzins bereits im April und Juli 2011 verfrüht an, obwohl sich die Wirtschaftslage keineswegs erholt hatte (der Schritt wurde später rückgängig gemacht). Auch bei Direktinterventionen der Zentralbank, etwa durch den Aufkauf von Staatsanleihen, war die EZB wesentlich zurückhaltender als die Fed. Überhaupt versucht die EZB ihr Inflationsziel von zwei Prozent nur einzuhalten, wenn sie es überschreitet, kaum jedoch wenn es unterschritten wird und die Gefahr der Deflation droht.

Europas Wirtschaftspolitik ist der Schlüssel zum Misserfolg

In den letzten Jahren sind die Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zwischen den USA und der Eurozone besonders drastisch zum Vorschein gekommen. Seit 20 Jahren sind die USA sowohl in der Budget- als auch in der Geldpolitik flexibler und pragmatischer als die Eurozone. Betrachtet man das reale BIP-Wachstum in den USA und der Euro-12 von 1960 bis 2014 in 5-Jahres-Perioden bestätigt sich der Befund, dass die kontinentaleuropäische Wirtschaft spätestens ab den frühen 1990er-Jahren den Anschluss verlor. Das ist genau der Zeitpunkt ab dem die Wirtschaftspolitik in der Eurozone meistens zurückhaltend, in den USA jedoch weitgehend offensiv war.

Wachstum des realen BIP pro Kopf in der EU-12 und den USA in 5-Jahres-Perioden 1960-2014
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Quelle: Ameco-Daten der EU-Kommission

Für das Verständnis der Wirtschaftspolitik in der Eurozone ist es wichtig die Prioritäten der Wirtschaft- und Währungsunion (WWU) zu benennen, die 1993 mit dem Vertrag von Maastricht in Kraft getreten ist. Im Bereich der Geldpolitik sind die im Vertrag von Maastricht festgelegten Ziele wie Wachstum und Beschäftigung der Preisstabilität eindeutig untergeordnet (in den USA sind diese Ziele gleichwertig). Die budgetpolitische Flankierung ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der in den letzten Jahren durch Verträge wie den Fiskalpakt verschärft wurde. Die Budgetregeln sollten verhindern, dass sich Mitgliedsstaaten zu hoch verschulden können, weil dies als Gefahr für die Stabilität der Eurozone interpretiert wurde. Damit ist eine konservative Wirtschaftspolitik beruhend auf Preisstabilität und Budgetdisziplin festgezurrt. Der Maastrichtvertrag, der eine Integration und Stärkung Europas zur Folge haben sollte, dürfte das Grundlagenpapier dafür sein, dass der alte Kontinent wirtschaftlich zurückfällt. Wie stark die ökonomischen Auswirkungen sind, lässt sich schwer seriös beziffern. Stockhammer vergleicht ökonomische Daten vor und nach Maastricht und konstatiert einen Rückgang der öffentlichen Ausgaben sowie der Budgetdefizite, dafür jedoch auch einen Rückgang der Arbeitsproduktivität, des BIP-Wachstums und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

USA treten sozialer Misere entschlossener entgegen als EU

Gemäß den Zielsetzungen der europäischen Geld- und Budgetpolitik hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit keinen herausragenden Stellenwert. Dementsprechend ist der Unterschied zwischen den Euro-12 und den USA besonders ersichtlich: Bis 1984 lag die Arbeitslosigkeit in der alten Eurozone stets unter dem Level der USA – seitdem liegt sie durchgehend darüber. Während die Arbeitslosigkeit in den USA großen Schwankungen unterworfen ist aber nicht unbedingt einem Trend folgt, scheint sie in den Euro-12 permanent anzusteigen. Besonders frappierend ist die Entwicklung seit 2010, als die Arbeitslosigkeit in beiden Regionen noch bei rund zehn Prozent lag. Seit damals ist sie in der alten Eurozone auf fast 12 Prozent angestiegen, während sie in den USA heuer bereits wieder auf 6,4 Prozent zurückgehen wird.

Entwicklung der Arbeitslosenrate in den Euro-12 und den USA 1960-2014
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Quelle: Ameco-Daten der EU-Kommission

Noch immer glauben die marktliberalen Eliten, Austerität und Lohnzurückhaltung seien die einzigen Wege, um Europas Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit – und damit seinen Wohlstand – zu retten. Umso wichtiger es ihnen erscheint gegenüber den aufstrebenden Ökonomien sowie gegenüber den USA nicht ins Hintertreffen zu geraten, umso aggressiver propagieren sie ihre Agenda. Weil sie sich Europa als Firma vorstellen, glauben sie das Heil des Kontinentes liegt im Kostenkampf auf den Weltmärkten.

Das vermeintliche Paradoxon ist nun, dass ihre Politik den umgekehrten Effekt von dem hat was erreicht werden soll – Europa kann mit der wirtschaftlichen Dynamik der USA immer weniger mithalten. Erfolgversprechend ist nämlich genau das gegenteilige Konzept, sprich Gelassenheit gegenüber dem internationalen Wettbewerb und Konzentration auf die eigene Ökonomie. In Wirklichkeit wird nämlich über 80 Prozent der europäischen Wertschöpfung auch in der EU abgesetzt.

Genau wie in den USA liegt der Schlüssel zur wirtschaftlichen Erholung im (europäischen) Inland. Eine offensive Wirtschaftspolitik ist wahrscheinlich die wichtigste unter vielen notwendigen Maßnahmen, um die Eurozone wieder auf Wachstumskurs zu bekommen, doch all jene, die das seit Jahren argumentieren, finden kein Gehör.