Deutschlands problematische Leistungsbilanzüberschüsse

12. August 2014

Die Europäische Kommission hat Maßnahmen zur Stärkung der Binnenwirtschaft in Deutschland vorgeschlagen. Diese wären auch im deutschen Interesse: Die Abhängigkeit von der Konjunktur im Rest der Welt wäre geringer und hohe Bewertungsverluste des volkswirtschaftlichen Auslandsvermögens würden der Vergangenheit angehören. Zudem würde eine Stärkung der Binnenwirtschaft den Krisenländern helfen, über den Außenhandel ihre Wirtschaft anzukurbeln und ihre Auslandsverschuldung abzubauen.

Leistungsbilanzsalden als Frühwarnindikator für EU-Kommission

Im Rahmen des Frühwarnsystems für makroökonomische Ungleichgewichte untersucht die EU-Kommission seit 2012 hohe Leistungsbilanzsalden. Kritisch sind demnach nicht nur anhaltend hohe Defizite, sondern auch anhaltend hohe Überschüsse (auf Drängen Deutschlands erst ab sechs Prozent des BIP). Der als Frühwarnindikator relevante Durchschnittswert für Deutschland betrug 7,3 Prozent. Folglich veröffentlichte die Europäische Kommission am 5. März 2014 Empfehlungen zum Abbau der deutschen Überschüsse. Der Leistungsbilanzsaldo wird für Industrieländer hauptsächlich durch den Außenhandel (Waren und Dienstleistungen) bestimmt, auch wenn Zinszahlungen und damit ein Abfluss von Vermögenseinkommen zuletzt durch den Anstieg der Auslandsverschuldung für die Krisenländer an Bedeutung zugenommen haben, ebenso wie zunehmende Vermögenseinkommen für Deutschland. Ein Leistungsbilanzdefizit geht mit einem Kapitalimport in gleicher Höhe einher. Der Rest der Welt kann den Kapitalexport nur leisten, wenn dort nicht das gesamte Einkommen verwendet wird, also ein Leistungsbilanzüberschuss erzielt wird. Weltweit addieren sich daher Leistungsbilanzsalden sowie Kapitalimporte und -exporte grundsätzlich zu null.

Das Defizit-Problem liegt auf der Hand: Weist ein Land Jahr für Jahr Leistungsbilanzdefizite auf, verschulden sich dessen Akteure (Staat, Unternehmen und private Haushalte zusammen) netto immer mehr gegenüber dem Rest der Welt. Steigt die Verschuldung stärker als das BIP, lässt sich die Auslandsverschuldungsquote nicht stabilisieren: Griechenlands Auslandsverschuldung stieg bis 2013 auf netto 119 Prozent des BIP, Portugals auf 119 Prozent, Spaniens auf 98 Prozent und Italiens auf 30 Prozent. Irgendwann wird ein Punkt erreicht, an dem ein relevanter Anteil der Kapitalexporteure nicht mehr bereit ist, Wertpapiere und Aktien des Landes zu kaufen oder Kredite zu vergeben. Spätestens dann droht eine Verschuldungskrise, die – wie in der Eurozone zu beobachten – meist zu langwierigen realwirtschaftlichen Einbrüchen führt. Im Euroraum kommt erschwerend hinzu, dass drohende Verschuldungskrisen eines Mitgliedslandes angesichts bisher fehlender institutioneller Verfahren zum Umgang mit diesen Schulden auch immer Spekulationen auf den Zerfall des Euroraumes implizieren und damit über die Finanzmärkte zu Ansteckungseffekten auf andere Mitgliedsländer führen.

Wieso auch Leistungsbilanzüberschüsse als Frühwarnindikator?

Betrachtet man Deutschland mit einem Auslandsvermögensstatus von derzeit netto gut 48 Prozent des BIP (Eurostat, Stand Mai 2014), scheint die aus anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen resultierende Gläubigerposition auf den ersten Blick sehr vorteilhaft. Einem Gläubigerland geht es aber nur solange gut, wie seine Schuldner auch Zins- und Dividendenzahlungen (sowie im besten Fall Tilgungszahlungen) leisten können. Dass das nicht immer der Fall ist, vor allem nicht, wenn die Schuldner in eine Verschuldungskrise geraten, zeigt zum Beispiel der Schuldenschnitt für Griechenland. Ausbleibende Zahlungen können dann beim Gläubiger zu Liquiditäts-, aber auch Solvenzproblemen in einzelnen Sektoren führen und den Bankensektor destabilisieren. Anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse verdienen daher eine ähnliche Beachtung als Frühwarnindikatoren wie Defizite.

Hat sich der Kapitalexport gelohnt?

Auch wenn Deutschlands Position im Vergleich deutlich komfortabler ist als die der verschuldeten Länder, zeigt sich, dass sich der Kapitalexport nicht gelohnt hat: Betrachtet man die Wertentwicklung der deutschen Auslandsanlagen, wird deutlich, dass vor allem seit den 1990er Jahren Wertverluste aufgrund von Bewertungsänderungen, vor allem durch Wertschwankungen bei Aktien aber auch bei Währungen, höher ausfielen als deren Renditen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen, Mai 2014. © A&W Blog
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen, Mai 2014.

Der Anstieg des deutschen Netto-Auslandsvermögensstatus lag dadurch seit Euro-Einführung immer etwa ein Drittel unter dem Wert, der nach den Leistungsbilanzüberschüssen zu erwarten gewesen wäre. Im Zeitraum der Finanzkrise war diese Differenz noch größer. Die Kapitalexporte haben sich damit insgesamt nicht gelohnt: Deutschland ist zwar netto Gläubiger gegenüber dem Rest der Welt geworden, aber nicht in dem Maße, wie es seinem Konsumverzicht entsprochen hätte.

Sind Leistungsbilanzüberschüsse eine erfolgreiche Wachstumsstrategie?

Exporte erhöhen das BIP, Importe reduzieren es. Steigen wie in Deutschland die Exporte stärker als die Importe führt das zu einem steigenden BIP. Der Außenhandel war hier zwischen 1999 und 2007 für gut die Hälfte des Wachstums verantwortlich. Doch trotz der zunehmenden Exportüberschüsse blieb das BIP-Wachstum von der Euro-Einführung bis zur Finanzkrise 2007 im Mittel gut einen halben Prozentpunkt unter dem Euroraum-Durchschnitt. Die Wachstumsimpulse aus dem Außenhandel konnten demnach die geringen Impulse von der binnenwirtschaftlichen Entwicklung nicht kompensieren. Das hat sich durch die zuletzt bessere Entwicklung des privaten Konsums zwar verbessert, doch blieben private und staatliche Investitionstätigkeit weiterhin unterdurchschnittlich. Die Europäische Union drängt daher im Rahmen der vertieften Analyse zurecht auf Maßnahmen zur Stärkung der Binnenwirtschaft, weil das zum einen zu höheren Importen und damit einem Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse führen würde und zum anderen die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der konjunkturellen Entwicklung in den Exportzielländern reduzieren würde.

Aktuell: Zunahme der Leistungsbilanzüberschüsse mit dem Rest der Welt

Trotz des mittlerweile höheren Konsumwachstums und der schwachen Euroraumentwicklung verzeichnet Deutschland weiterhin hohe und steigende Exportüberschüsse, aber seit Mitte 2010 eher mit dem Rest der Welt als mit dem Euroraum: Die Exporte stiegen vor allem in überdurchschnittlich wachsende Schwellenländer und in die USA. Bis 2010 waren die Leistungsbilanzüberschüsse mit dem Euroraum höher ausgefallen und hatten im ersten Quartal 2008 ihren Höchststand erreicht. Angesichts zwischenzeitlich rückläufiger Exporte und zunehmender Importen hat sich dieser Überschuss mittlerweile auf fast die Hälfte verringert. Deutschland trägt dadurch jetzt weniger zu den Ungleichgewichten im Euroraum bei als in der Vergangenheit. Da gleichzeitig aber die Überschüsse mit dem Rest der Welt auf einem neuen Rekordniveau sind, ist das Land weiterhin zu sehr von Wachstumsimpulsen aus dem Ausland abhängig.

Eine Stärkung der Binnennachfrage würde nicht nur dieses Problem verringern, sondern auch über die zu erwartenden höheren Importe aus den anderen Mitgliedsländern direkt zur Verringerung der Ungleichgewichte in der Eurozone beitragen. Eine weitere Überschussreduzierung würde zudem den Druck auf die Euroaufwertung mildern: Da alle Krisenländer bestrebt sind, Leistungsbilanzüberschüsse auszubauen, wird der in der Vergangenheit ausgeglichene Saldo des Euroraums zu einem wachsenden Überschuss, der im vierten Quartal 2013 bereits 2,8 Prozent des BIP (Eurostat, April 2014) erreichte. Das befördert eine zunehmende Aufwertung des Euro gegenüber anderen Währungen und erschwert es den Krisenländern, über den Außenhandel ihr Wachstum anzukurbeln.

Maßnahmen zur Verringerung der Überschüsse: Mindestlohn und staatliche Investitionen

Wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen beeinflussen die dezentralen Entscheidungen individueller Akteure und können so zur Reduzierung der Leistungsbilanzüberschüsse beitragen. Die Einführung des Mindestlohns in Deutschland ist insofern hilfreich, da sie die Binnennachfrage stabilisiert. Zusätzlich sollten jedoch, wie auch von der Europäischen Kommission und dem IWF gefordert, weitere Maßnahmen zur Stärkung der Investitionstätigkeit getroffen werden, vor allem durch staatliche Nettoinvestitionen in Infrastruktur und Bildung. Eine dynamischere Entwicklung der Binnenwirtschaft würde auch die Rendite von Finanzanlagen in Deutschland erhöhen und damit helfen, die private Investitionstätigkeit zu stärken. Vermehrte Investitionen im Inland würden die massiven Bewertungsverluste bei Auslandsanlagen vermeiden und damit eine sinnvollere Vorbereitung auf die demographische Entwicklung darstellen als Kapitalexporte ins Ausland. Da zudem fast alle Industrieländer wie auch große Schwellenländer wie China vor ähnlichen Alterungsprozessen stehen, können Kapitalexporte ohnehin keine Lösung für alle sein.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Artikels, der als WISO direkt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen ist.