Brain Drain in Österreich?

23. April 2014

Schon der Antext in der Neuen Zürcher Zeitung war dramatisch: „Auf längere Sicht wird der ungebremste Braindrain für Österreich zu einem noch grösseren Problem als die Folgekosten der Hypo Alpe Adria“ schrieb Matthäus Kattinger dort am 1. April – es war aber offenbar nicht als Aprilscherz gemeint. Auch andere Medien hatten das Thema aufgegriffen und der Tenor war: Österreich verliert seine Geisteselite. Insbesondere die NZZ folgerte daraus, dass „überbordende Regulierungswut“ oder zu hohe Steuern schuld für den Brain Drain wären. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass diese Argumentation auf Sand gebaut ist, weil es in Österreich vielmehr einen „Brain Gain“ gibt, also einer Nettozuwanderung gut ausgebildeter Menschen.

Ausgangspunkt der Debatte war eine Aussendung der Universität Wien. Kern der Meldung: Es gibt ÖsterreicherInnen (aller Qualifikationen), die ins Ausland abwandern. Und die Zahl der abwandernden übersteigt jene der zuwandernden ÖsterreicherInnen. Soweit – so undramatisch, denn das Menschen sich internationaler orientieren ist erst einmal erfreulich. Nicht nur in der NZZ wurde diese Information weiterverarbeitet, sondern auch von heimischen Medien, die das angebliche Brain-Drain-Problem thematisierten. So titelte der Kurier und der Standard „Österreich hat ein Brain-Drain-Problem“, oder ebenfalls wortident die Wiener Zeitung und die Presse: „Hochqualifizierte verlassen das Land“.

jährliche AkademikerInnen-Nettoabwanderung: 700 oder 10.000?

Der Beitrag der NZZ ist alleine wegen des Umgangs mit Quellen besonders ärgerlich. So darf Franz Schellhorn, Chef von Agenda Austria, einer „Denkfabrik der Millionäre“ mutmaßen, dass das „offizielle Österreich“ gar keine Hochqualifizierten wolle. Es spricht dann auch Bände, wie mit den Fakten umgegangen wird. Im NZZ-Beitrag wird zunächst behauptet: „Denn Österreich leidet seit Jahren unter einem massiven Braindrain, übertrifft doch die Zahl der abwandernden Hochqualifizierten jene der Zu- oder Rückwanderer um bis zu 10 000 Personen pro Jahr.“ Quelle für diese Aussage sei die Statistik Austria. Schaut man genauer hin dann wird aber deutlich, dass die Daten der Statistik Austria diese Zahlen nicht decken.

Erstens werden nur Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft berücksichtigt, und zweitens wandern bei weitem nicht nur Hochqualifizierte ab. Alexander Wisbauer und Regina Fuchs schreiben in den Statistischen Nachrichten, dass „insgesamt knapp zwei Drittel aller im Jahr 2012 fortgezogenen Personen österreichischer Staatsbürgerschaft keine Matura“ hatten. Einen akademischen Abschluss hatten überhaupt nur 3.112 ÖsterreicherInnen, die das Land 2012 verlassen haben. Dem stehen 14.753 RückkehrerInnen gegenüber, deren Bildungsstand nicht bekannt ist. Sollte der Qualifikationsstand ähnlich sein wie der auswandernden ÖsterreicherInnen (es kann aber sogar sein, dass er höher ist, etwa weil ÖsterreicherInnen zum Studium ins Ausland gegangen sind) dann beträgt die Nettoabwanderung von österreichischen StaatsbürgerInnen mit akademischem Abschluss nicht wirklich alarmierende 700 Personen im Jahr 2012. Wie die NZZ auf „bis zu 10.000“ kommt bleibt ihr Geheimnis, da die Nettoabwanderung von ÖsterreicherInnen über alle Bildungsabschlüsse hinweg im Jahr 2011 exakt 6.404 und 2012 dann 7.414 betrug. Für 10.000 Hochqualifizierte bedarf es schon erheblicher Fantasie.

Die Aussage schrumpft also zusammen auf: Vielleicht haben mehr hochqualifizierte ÖsterreicherInnen Österreich verlassen als nach Österreich zurückgekommen sind.

Beweisen abwandernde AkademikerInnen mit österreichischem Pass einen Brain Drain?

Unterstellt, dass auch AusländerInnen ein „Brain“ haben, müsste man sich die Daten insgesamt ansehen. Und da wird es schwierig, denn über den Bildungsstand der ZuwandererInnen ist relativ wenig bekannt. Wisbauer und Fuchs schreiben: „Nicht für alle Personen, die ihre Ausbildung ausschließlich im Ausland absolviert haben, liefern die genannten Datenquellen gesicherte Informationen über den Bildungsstand. Da dies insbesondere auf Zuwanderer aus dem Ausland zutrifft, sind Analysen über den Bildungsstand der Zuzüge nach Österreich nicht sinnvoll möglich.“ Wohl aber gibt es Daten über den Bildungsstand der hier lebenden AusländerInnen. Und der hat sich dramatisch geändert.

Der Bildungsstand der AusländerInnen in Österreich hat sich allein zwischen 2004 und 2013 erheblich verändert, wie eine Auswertung aus der Arbeitskräfteerhebung des Mikrozensus durch Statistik Austria zeigt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: STATISTIK AUSTRIA, Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung 2004, 2013 © A&W Blog
Quelle: STATISTIK AUSTRIA, Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung 2004, 2013

Der Anteil der AusländerInnen mit einem Pflichtschulabschluss liegt bei 27,7 Prozent und damit um 9,2 Prozentpunkte niedriger als noch vor neun Jahren. ÖsterreicherInnen haben zu 13,6 Prozent lediglich einen Pflichtschulabschluss. Einen akademischen Abschluss haben aber 20,9 Prozent der AusländerInnen, die damit einen höheren Anteil erreichen als die ÖsterreicherInnen (15,6 Prozent). Das deutet bei allen fehlenden Daten darauf hin, dass die aktuell zuwandernden Personen mit ausländischem Pass einen höheren AkademikerInnenanteil aufweisen als die ÖsterreicherInnen. Weiß man dies, dann sieht die „Brain“-Rechnung wie folgt aus:

51.211 AusländerInnen sind 2012 netto (Saldo aus Zu- und Wegzügen) nach Österreich gekommen. Wenn der Bildungsstand jenem der hier lebenden AusländerInnen entspricht, dann haben davon 20,9 Prozent oder 10.700 einen akademischen Abschluss. Der „Brain Drain“ in der NZZ besteht also aus einem Nettowegzug von geschätzten 700 ÖsterreicherInnen mit akademischem Abschluss und einem Nettozuzug von geschätzten 10.700 AusländerInnen mit akademischem Abschluss. Selbst wenn die hier getroffenen Annahmen nicht exakt stimmen – so falsch, dass aus den Daten ein Brain Drain wird, kann man gar nicht liegen.

Nun wird in der NZZ aber nicht nur behauptet, es gäbe einen Brain Drain. Der Autor behauptet auch noch, die Ursachen zu kennen: „Doch ohne drastische Einschnitte, ohne eine Reform an Kopf und Gliedern, wird es nicht gehen, ist mittlerweile doch zu viel Sand im Getriebe: Das leistungsfeindliche Steuersystem, der hinter der Phrase «soziale Gerechtigkeit» versteckte Hang zur Gleichmacherei (Verteilungs- statt Leistungs- und Chancengerechtigkeit), die anhaltende Erosion von Freiheitsrechten und Selbstverantwortung, überbordende Regulierungswut bei fehlendem Reformmut.“ Nachdem nun klar ist, dass es bestenfalls einen Brain Gain gibt, müsste der Autor der NZZ nun für einen Ausbau des Sozialstaates plädieren. Da es aber offensichtlich nicht um Fakten geht wird er das nicht tun.

Echte Probleme lösen

Die Debatte zum Brain Drain ist deshalb so gefährlich, weil sie auch im Bereich der Bildung und der Integration den Blick auf die Realitäten verstellt. Folgende Herausforderungen müssten deshalb sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihrer öffentlichen Finanzierung gemeistert werden:

  1. Die Lebensqualität der Menschen sollte im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. JedeR hat ein Leben, und jedeR soll dieses Leben so gut wie möglich führen. Das bedeutet aber, dass wir Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft brauchen. Und dafür brauchen wir gut ausgebildete Menschen. Die zentrale Frage lauten also: Investieren wir ausreichend in die Bildung der jungen Generation und ist der Zugang zu Bildung für alle Bevölkerungsschichten möglich? Hier gilt es anzusetzen, bspw. indem endlich die soziale Selektivität des Bildungssystems überwunden wird. Das Versagen des österreichischen Bildungssystems lässt sich auf Dauer nicht durch den Import gebildeter AusländerInnen kompensieren.
  2. Sind die Universitäten so aufgestellt, dass sie in Forschung und Lehre bestmöglichst zur Lösung der Zukunftsprobleme beitragen können? Auch hier wissen wir, dass noch Luft nach oben ist. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Deutschland macht seit Jahren darauf aufmerksam, dass die fehlende berufliche Perspektive und die fehlende Planbarkeit der eignen Karriere das Hauptproblem dafür sein dürfte, dass sich fähige junge Menschen gegen eine Forschungskarriere entscheiden (siehe dazu das Templiner Manifest der GEW). Dies dürfte auch für Österreich gelten.
  3. Wir sollten endlich anerkennen, dass die Zuwanderung in Österreich mindestens so bunt ist wie Österreich selbst: Es gibt Menschen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen, unterschiedlichen Träumen und Wünschen, Sorgen und Problemen. Und sie sind hier. Wenn wir das nicht endlich als Chance begreifen, dann bekommen wir ein erhebliches Problem – und zwar sozial-, integrations-, bildungs-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch. Die AusländerInnen bei der Brain Drain-Debatte schlicht zu ignorieren zeigt aber, dass hier erheblicher Aufholbedarf besteht.
  4. Zuwanderung ist kein stabiler Faktor, sondern sie ändert sich und die Migrationsgründe sind sehr verschieden. Anstatt also alle Probleme auf die Zuwanderer abzuladen (in der NZZ ist die These: „Hochqualifizierte verlassen das Land, Ungelernte wandern zu“) sollte man auch hier die neuen Realitäten anerkennen. Die Zuwanderer bringen nämlich viel mit (auch Bildungsabschlüsse), was viel zu wenig genutzt wird. Es Menschen auch zu erleichtern, hier zu leben ist eine Forderung, die unterstützt werden muss.