BIP pro Kopf: Österreichs „abgesandelter“ Wirtschaftsstandort an Europas Spitze

02. April 2015

Nicht mehr wettbewerbsfähig, „abgesandelter“ Standort, Land ohne Zukunft – konservative Interessenvertretungen und JournalistInnen lieben schlechte Nachrichten. Dies steht in auffallendem Gegensatz zu harten Fakten, die Österreich an der Spitze der EU verorten, etwa beim gebräuchlichsten Maß für wirtschaftliche Leistung, dem BIP pro Kopf. Dort hat Österreich seinen Vorsprung gegenüber dem EU-Durchschnitt seit 2007 von 23 Prozent auf 28 Prozent ausgebaut.

Österreich verbessert sich

Wirtschaftskraft – und damit im allgemeinen Sprachgebrauch auch materieller Wohlstand – werden gemeinhin mithilfe des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zwischen Ländern verglichen. Das BIP pro Kopf lag in Österreich 2013 bei 34.000 Euro.

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Quelle: Eurostat © A&W Blog
Quelle: Eurostat

Zu Kaufkraftstandards stellt dies nach Luxemburg, Irland und den Niederlanden den vierthöchsten Wert der EU dar. Der so gemessene Wohlstand liegt um 28 Prozent über dem Durchschnitt der EU-Länder. Das Land ist seit 2007 auch besser als andere durch die Finanzkrise gekommen und hat so sein Ranking verbessert. Der Vorsprung gegenüber dem EU-Durchschnitt erhöhte sich von 23 Prozent auf 28 Prozent; der Abstand zu den Spitzenreitern ist geringer geworden: Die Niederlande liegen noch drei Prozentpunkte vor Österreich (2007: 13 Prozentpunkte), Irland zwei Prozentpunkte (2007: 24 Prozentpunkte).

Deutschland holt auf

2014, für das noch keine Daten des BIP pro Kopf vorliegen, dürfte der Abstand wieder geringfügig gestiegen sein, weil Österreichs Wirtschaft etwas langsamer wuchs. Vor allem holt Deutschland gegenüber Österreich auf. Während Deutschland zehn Jahre lang, überwiegend wegen fehlender Konsumnachfrage und schwacher Bauinvestitionen, auf der Kriechspur war, legt es nun gerade in diesen Bereichen zu: Die Konsumnachfrage privater Haushalte wuchs in den letzten Jahren real drei Mal so rasch als in Österreich, die Bauinvestitionen sogar acht Mal, der Export knapp doppelt so rasch. Die Konsumnachfrage wird durch sinkende Arbeitslosigkeit und deutlich höhere Lohnzuwächse gestützt, beides auch die Folge eines Zurückbleibens des Angebots an Arbeitskräften gegenüber der Nachfrage. In Österreich steigt hingegen das Arbeitskräfteangebot außerordentlich stark, das führt zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und drückt die Löhne nach unten.

Rekordarbeitslosigkeit und Ungleichheit als wichtigste Herausforderungen

Die Rekordarbeitslosigkeit stellt tatsächlich die wichtigste wirtschaftspolitische Herausforderung in Österreich dar. Die Zahl der Arbeitslosen liegt heuer um 150.000 höher als zu Beginn der Finanzkrise. Dieser Anstieg ist aber nicht die Folge fehlender Wettbewerbsfähigkeit oder eines wirtschaftlichen Zurückfallens Österreichs. Sie ist auf die Finanzkrise in Europa und den starken Anstieg des Angebots an Arbeitskräften zurückzuführen. Diesem Problem ist nur mit einem Potpourri an Maßnahmen beizukommen: Vom Umbau des Bildungssystems über den Ausbau sozialer Dienstleistungen und öffentlicher Investitionen bis zu einer Verkürzung der Arbeitszeit.

Im Mittelpunkt der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Belebung der Wirtschaft müssen Verteilungsfragen stehen, die die wichtigsten Strukturprobleme der österreichischen Wirtschaft bestimmen. Die enorme Konzentration der Vermögen und der Vermögenseinkommen sowie die zunehmenden Einkommensunterschieden zwischen Jobs in gut abgesicherten Normalarbeitsverhältnissen und der stark wachsenden Zahl prekärer Jobs bilden die zentralen Herausforderungen. Der Sozialstaat wirkt beiden Tendenzen entgegen, kann dies aufgrund wachsender Finanzierungsprobleme aber immer weniger tun.

Den Wohlstand richtig messen

Die Nichtberücksichtigung der Verteilung der Einkommen schränkt die Brauchbarkeit des BIP pro Kopf für eine Messung des Wohlstandes drastisch ein. Für einen internationalen Vergleich sind deshalb zusätzlich Indikatoren und insbesondere Verteilungsmaße wie der Gini-Koeffizient heranzuziehen. Für Österreich fällt auch hier – wegen des guten Sozialstaates, vor allem des umfassenden Pensionssystems – die Bewertung gut aus, die Ungleichheit nimmt allerdings über die Jahre zu.

Auch aus anderen Gründen muss das BIP als Wohlstandsmaß in den Hintergrund treten: Es ist zu sehr auf die Messung von Produktion zu den auf Märkten erzielten Preisen ausgerichtet und berücksichtigt den Verbrauch von Konsumgütern und privaten und öffentlichen Dienstleistungen zu wenig; es negiert die zunehmend wichtigen Bestandsgrößen wie Vermögen, Ressourcen, Wissen; es berücksichtigt nicht wie viel Arbeitszeit für die Produktion von Gütern aufgewendet werden muss; es erfasst Qualitätsänderungen sowie soziale Dienstleistungen zu wenig und berücksichtigt den mit der Produktion verbundenen Material- und Ressourcenverbrauch nicht.

Auch bei Einbeziehung dieser entscheidenden Indikatoren steht Österreich im europäischen Vergleich recht gut da. Die dringend notwendigen genauen Analysen und Bewertungen befinden sich allerdings erst im Anfangsstadium, vor allem jene von Statistik Austria sind aber vielversprechend.