Arbeitszeitverkürzung als Instrument der Wirtschaftspolitik

16. Oktober 2014

Die MetallerInnen verhandeln derzeit über etwas, das die Elektr(on)ikerInnen seit 2013 haben: die Freizeitoption. Auch unter ÄrztInnen wird aktuell wieder über kürzere Arbeitszeiten diskutiert. Der Weltwirtschaftskrach hat eine Idee erweckt (Stichwort: Kurzarbeit), die angesichts flauen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit allmählich wieder Anklang findet: Arbeitszeitverkürzung (AZV) – ein ewiges Streitthema, ein Reizwort, eine polarisierende „quasi-religiöse Kontroverse“. Insofern ist dies ein Beitrag zur Säkularisierung eines potentiellen Instruments der Wirtschaftspolitik.

Die Pauschalkeule?

Wer sich mit dem Thema AZV beschäftigt, stößt bald auf die sogenannte „lump of labor fallacy“. Gemeint ist damit die Annahme eines fixen Arbeitsvolumens, welches problemlos umverteilt werden kann. Da AZV genau auf dieser Idee beruhe, das Arbeitsvolumen in Wirklichkeit aber nicht unveränderlich ist, sei das Programm zwangsläufig zum Scheitern verurteilt – argumentieren AZV-GegnerInnen oft. Außer Frage steht, dass die Idee einer nebenwirkungsfreien Umverteilung der Arbeit auf mehrere Köpfe zu kurz greift: die heikle Frage des Lohnausgleichs, Veränderung der Arbeits- und Kapitalproduktivität und damit Lohn- & Kapitalstückkosten, Effekte auf Wachstum, Außenhandel und den Binnenmarkt, das Arbeitsangebot und dessen Nachfrage, etc. werden dabei ausgeblendet.

Allerdings argumentiert kaum eine seriöse AZV-Befürwortung so plump. Insofern liegt die Vermutung nicht gar so fern, dass die ewig gleiche Leier von der „lump of labor fallacy“ einfach nur ein Vorwand ist, um AZV-Diskussionen von vornherein zu verteufeln.

Die Kostenfalle?

Weiters argumentieren AZV-GegnerInnen gerne mit drohenden Mehrkosten: wenn der Produktionsfaktor Arbeit durch AZV verteuert wird, leide die Wettbewerbsfähigkeit – was am Ende zu noch mehr Arbeitslosigkeit führe. Im Umkehrschluss entfällt diesem Argument jedoch der Stachel, sobald AZV nicht zu höheren Kosten führt.

Genau das lässt sich aber für die Erfahrungen in Österreich, Deutschland und Frankreich feststellen bzw. mit produktivitätsorientierter Lohnpolitik erreichen.

Die Nachfragebremse?

Uneinigkeit herrscht auch unter nachfrageorientierten ÖkonomInnen. Der prominente Keynesianer Heiner Flassbeck zum Beispiel ist skeptisch – und plädiert statt AZV für hohe Lohnabschlüsse zur Ankurbelung des Binnenmarkts. Keynes selbst hatte diesbezüglich jedoch eine klare Meinung, wie er 1945 in einem Brief kundtut:

 „The full employment policy by means of investment is only one particular application of an intellectual theorem. You can produce the result just as well by consuming more or working less. Personally I regard the investment policy as first aid. […] Less work is the ultimate solution. How you mix up the three ingredients of a cure is a matter of taste and experience […].”

Mit „the result“ ist natürlich Vollbeschäftigung gemeint und obwohl sicher erheblicher Spielraum für sinnvolle und nachhaltige Investitionen existiert, darf man auch gemäß Keynes durchaus über AZV nachdenken.

Trübe Erfolgsaussichten?

Je nach Bedarf lässt sich mit ökonomischer Forschungsliteratur beides beweisen: Erfolg, genauso wie Misserfolg von AZV-Politik – auch hier herrscht Gespaltenheit.

Zwei Dinge lassen sich trotzdem zweifelsfrei ableiten:

  1. AZV ist kein nebenwirkungsfreies Allheilmittel, das jederzeit und allerorts funktioniert.
  2. Unter bestimmten Bedingungen schafft AZV Beschäftigung.

Neben produktivitätsorientierten Lohnverhandlungen und angemessener – öffentlicher, wie betrieblicher – Qualifizierungspolitik (um Personalengpässe vorzubeugen), ist vor allem die Anpassung der Arbeitsorganisation zentral. Davon hängt ab, wie sich AZV auf Überstunden und Betriebszeiten auswirken. In kapitalintensiven Branchen sind Betriebszeiten mitunter für die gesamten Produktionskosten wichtiger, als Löhne und Gehälter. Im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland sind die Betriebszeiten seit den 90ern beispielsweise trotz konstanter Arbeitszeit kontinuierlich gestiegen. Umgekehrt kann somit AZV durch Reorganisation der Arbeitsprozesse zu konstanten oder auch längeren Betriebszeiten führen – mit entsprechend positiver Kostenwirkung.

Säkularisierte Arbeitszeit

Nüchtern betrachtet, könnte man sich die „Quasi-Religiosität“ des AZV-Diskurses auch einfach sparen. Dann könnte man zum Beispiel auch über folgendes in Ruhe diskutieren:

  • Über den beschäftigungssichernden Effekt der Kurzarbeit besteht kein Zweifel – das deutsche Modell wurde gar als „German miracle“ hochstilisiert. Über die offensichtliche Verwandtschaft mit dem Thema allgemeine AZV wird trotzdem selten laut nachgedacht.
  • In der Tagespolitik mag das Thema AZV umstritten sein, aus langfristiger Perspektive steht die Möglichkeit und Notwendigkeit allgemeiner AZV außer Frage. Das Wuppertal Institut weist sogar darauf hin, dass die Vollbeschäftigung der Nachkriegszeit ohne parallele AZV nicht möglich gewesen wäre.
  • Die Umsetzung kürzerer Arbeitszeiten wurde seit jeher von Gewerkschaften erkämpft. Trotzdem gibt es eine lange Liste fortschrittlicher UnternehmerInnen, die AZV als zweckdienlich anerkannten. Kürzlich war von zwei skandinavischen Unternehmen zu lesen, die durch AZV Krankenstände reduzieren und die Produktivität erfolgreich steigern konnten. Doch schon 1900 führte Ernst Abbé den 8-Stunden-Tag in seinem Unternehmen ein (und trat ob des Erfolgs fortan für gesamtwirtschaftliche AZV ein), Paradeunternehmer Henry Ford folgte in der Zwischenkriegszeit mit der 5-Tage-Woche.

Dass AZV nicht alle gegenwärtigen Probleme alleine und gleichzeitig lösen wird können, sollte klar sein. Dass sie ein mächtiges Instrument der Wirtschaftspolitik ist und immer war, ebenso. Und dass wir angesichts der offenbar nicht enden wollenden Krise(n) seriös über derartige Instrumente diskutieren sollten, muss ein Gebot der Stunde sein.