Staatsfinanzierung durch die EZB: Ein notwendiger Tabubruch

30. Januar 2015

Die Krise hat Europa fest im Griff. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Deflationsgefahr steigt kontinuierlich. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zwar das Vertrauen in den Weiterbestand der Währungsunion vorläufig wieder hergestellt, ihre Geldpolitik stimuliert die Realwirtschaft jedoch kaum mehr. Die Wirtschaftspolitik in vielen EU-Mitgliedsstaaten beschränkt sich auf Einschnitte in Sozialsysteme, Arbeitsrechte und öffentliche Aufgaben. Damit wirken sie den expansiven Maßnahmen der EZB sogar entgegen. Zur Überwindung der Krise wäre eine Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank wirksam und sinnvoll.

EZB-Staatsfinanzierung als Krisenlösung …

Im Jänner hat die EZB nun beschlossen, in großem Ausmaß Staatsanleihen zu kaufen („Quantitative Easing“). Sie begründet dies mit der Notwendigkeit, den geldpolitischen Transmissionskanal zu stärken. Damit soll jeder Verdacht abgewehrt werden, sie betriebe „verbotene Staatsfinanzierung“. Dennoch wird diese Maßnahme insbesondere von deutscher Seite heftig kritisiert. Die direkte Staatsfinanzierung gilt vor allem bei konservativen ÖkonomInnen im Euroraum als absolutes Tabu. Die „Disziplinierung“ der Regierungen durch die Finanzmärkte wird hingegen weiterhin als sinnvoll und notwendig angesehen.

In den USA war die Krisenbekämpfung deutlich effektiver als im Euroraum. Die Regierung ließ dort hohe Defizite zu und stabilisierte so die Konjunktur. Die Zentralbank wiederum kaufte große Mengen von Staatsanleihen und hielt dadurch die Zinsen niedrig. Im englischsprachigen Raum wird dieses Instrument daher auch weniger voreingenommen diskutiert als hierzulande. Adair Turner, ehemaliger Vorsitzender der britischen Finanzmarktregulierungsbehörde FSA, betonte die Notwendigkeit, während der Krise auf das Instrument der direkten Staatsfinanzierung zurückzugreifen. Er berief sich dabei auf die Monetaristen Irving Fisher und Milton Friedman sowie auf Ben Bernanke, der eine ähnliche Politik in den 1990er-Jahren für Japan gefordert hatte. Auch post-keynesianische ÖkonomInnen wie Abba P. Lerner oder L. Randall Wray befürworten seit langem die direkte Staatsfinanzierung durch die Zentralbank – und das nicht nur in Krisenzeiten.

In der aktuellen Krise gibt es einige gute Gründe dafür, öffentliche Defizite über die Zentralbank zu finanzieren:

  • Die Konjunktur kommt unter anderem deshalb nicht in Gang, weil Haushalte und Unternehmen in einigen Ländern hoch verschuldet sind und versuchen, ihre Vermögens- bzw. Eigenkapitalpositionen zu verbessern (Stichwort „Bilanzrezession“). Zusätzliche öffentliche Ausgaben wären daher dringend notwendig, um die fehlende Nachfrage zu kompensieren.
  • Der Fiskalpolitik sind jedoch mehrfach „die Hände gebunden“. Neben den Einschränkungen durch die EU-Fiskalregeln sorgt vor allem die Angst vor höheren Zinsen dafür, dass Staaten keine zusätzlichen Ausgaben tätigen.
  • Die Geldpolitik der EZB ist bei ihrem Versuch, die Konjunktur zu stärken, längst an ihre Grenzen gestoßen. Der Leitzinssatz hat die Nullprozentmarke erreicht und kann nicht mehr weiter gesenkt werden. Unkonventionelle Maßnahmen wie gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und Ankäufe forderungsbesicherter Wertpapiere zielen auf eine Ausweitung des Kreditangebots. Wenn, wie in der aktuellen Situation, die Unternehmen und Haushalte kaum Kredite nachfragen, laufen diese Maßnahmen ins Leere.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten somit nur zusätzliche öffentliche Ausgaben – finanziert über die EZB. So würde unmittelbar Nachfrage geschaffen, ohne dass die Gefahr eines neuerlichen Anstiegs der Zinsen auf Staatsanleihen entsteht. Turner sieht in dieser Kombination aus expansiver Fiskalpolitik und Finanzierung über die Zentralbank, wie sie von den USA vorgemacht wurde, sogar die einzige Möglichkeit die Konjunktur in der aktuellen Krise zu stärken.

… und dauerhafte Maßnahme

Vieles spricht allerdings dafür, öffentliche Defizite auch abseits von Krisen teilweise durch die EZB zu finanzieren:

  • Gerade die Eurokrise zeigt, dass Finanzmärkte die ihnen unterstellte Stabilisierungsfunktion nicht wahrnehmen. Sie tendieren vielmehr dazu, prozyklisch zu agieren und dadurch Booms und Krisen zu verstärken. Die Finanzierungskosten für Staaten neigen zu übertriebenen Schwankungen, die eine langfristige Planbarkeit öffentlicher Ausgaben erschweren.
  • Finanzmärkte repräsentieren vor allem den reichsten Teil einer Gesellschaft. Menschen mit niedrigen oder mittleren Einkommen haben kaum überschüssiges Geld, das sie in Finanzanlagen investieren können. Sie tragen jedoch zum allgemeinen Steueraufkommen bei, aus dem die Staatsanleihen bedient werden. Staatsfinanzierung über die Finanzmärkte bedeutet somit eine Umverteilung von arm zu reich.
  • Die Finanzierung öffentlicher Aufgaben über Finanzmärkte ordnet das Gemeinwohl privaten Kapitalinteressen unter. InvestorInnen haben auf diesem Weg die Möglichkeit, Druck auf demokratisch legitimierte Regierungen auszuüben und sie im Interesse einer kleinen Minderheit zu beeinflussen.
  • Der Finanzsektor ist in den vergangenen Jahrzehnten viel schneller gewachsen als die Realwirtschaft und die Häufigkeit von Finanzkrisen hat zugenommen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Restrukturierung und Verkleinerung des Finanzsektors. Jede Transformation in diese Richtung ist nur möglich, wenn die Regierungen an fiskalischer Bewegungsfreiheit gewinnen und sich vom Finanzsektor emanzipieren.

Entscheidend sind die richtigen Regeln

Damit diese Ziele erreicht werden können, ist ein Zusammenspiel der Institutionen erforderlich. Die unabhängige Zentralbank sollte in Abstimmung mit den Regierungen der Mitgliedstaaten die Höhe der von ihr finanzierten Defizite festlegen. Sie sollte sich dabei an einem Mandat orientieren, das neben Preisstabilität auch Vollbeschäftigung umfasst. Wenn Konjunktur und Inflation schwach sind, dann würde das Finanzierungsvolumen höher ausfallen als bei gut ausgelasteten Kapazitäten. So ist sichergestellt, dass Regierungen ihre Ausgaben nicht in beliebiger Höhe über die Zentralbank finanzieren, und sie keinen Zugriff auf die sprichwörtliche Notenpresse haben.

Die – ohnehin erratische – Disziplinierung durch die Finanzmärkte würde durch eine abgestimmte Finanzplanung ersetzt. Die Finanzierung sollte zinsfrei und direkt über den Primärmarkt erfolgen. So wird ein Anstieg der Zinsen der über den Markt gehandelten Staatsanleihen und der Belastung der öffentlichen Haushalte verhindert.

Die institutionelle Teilung der Entscheidungskompetenz zwischen Regierungen und EZB stellt sicher, dass die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank keine unkontrollierte Inflation auslöst. Das monetaristische Argument, dass eine Erhöhung der Zentralbankgeldmenge in jedem Fall stark steigende Preise bewirkt, ist falsch. Solange Kapazitäten unterausgelastet sind und die Arbeitslosigkeit hoch ist, bleibt der Preisauftrieb niedrig. Wenn sich die Zentralbank entsprechend ihrem Mandat an solchen realwirtschaftlichen Indikatoren orientiert, dann ist sichergestellt, dass die Inflation nur geringfügig von ihrem Zielwert abweicht. Ob Staatsausgaben über die EZB oder über die Finanzmärkte finanziert werden, spielt für ihre Wirkung auf die Preise keine Rolle.

Das Zusammenspiel zwischen den Institutionen bewahrt jedoch nicht davor, dass Staaten im gegenseitigen Wettbewerb ihre Steuern senken und die fehlenden Einnahmen durch EZB-Geld ersetzen könnten. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, könnte die Inanspruchnahme an die Verpflichtung zur Stärkung der staatlichen Einnahmenbasis geknüpft werden. Das könnte beispielsweise über eine Vereinbarung zu Mindeststeuersätzen und einen Mindestanteil von Steuern auf Vermögen, Kapitalgewinnen und Unternehmensgewinnen am Gesamtaufkommen erfolgen. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und eine europäische Steuerkooperation zur Bekämpfung von Steuerbetrug könnten ebenso als Voraussetzungen festgelegt werden.

Fazit

Die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank ist eine wirksame und sinnvolle Maßnahme zur Krisenbekämpfung. Sie eröffnet jedoch auch über die Krise hinaus die Möglichkeit, die Finanzierung öffentlicher Aufgaben vom Diktat der Finanzmärkte zu befreien und die Stabilität des Wirtschaftssystems zu erhöhen. Auch wenn diese Art der Finanzierung heute noch ein Tabu darstellt, ist es höchste Zeit, die Debatte darüber in Gang zu bringen.

Dieser gekürzte und überarbeitete Beitrag wird im Debattenforum der Ausgabe 1/2015 der Zeitschrift Kurswechsel erscheinen. Eine Vorabversion wurde bereits am BEIGEWUM-Blog veröffentlicht.